Gastartikel: „Musik zu genießen, ist grundsätzlich möglich…“

Ein Gespräch mit Dr. Horst Hessel über das Hören und das Genießen von Musik mit dem Cochlea-Implantat (CI)

von Martin Schaarschmidt

Dr. Horst Hessel Cochlear

„Musik zu genießen, ist grundsätzlich möglich…“ - Dr. Horst Hessel, Research Manager Germany bei Cochlear
(Foto: Cochlear)

Vor mehr als 30 Jahren wurde erstmals in Deutschland ein Patient mit einem Cochlea Implantat (CI) versorgt; mittlerweile leben in der Bundesrepublik über 30.000 Kinder und Erwachsene mit einem oder auch zwei CI. Stand am Anfang der CI-Rehabilitation allein die Fähigkeit, Sprache zu verstehen, im Fokus, wird heute vielfältig diskutiert, inwieweit man mit dem CI sogar Musik genießen kann. Mehr erfuhren wir im Gespräch mit Dr. Horst Hessel, Research Manager Germany bei Cochlear.

Redaktion: Herr Dr. Hessel, inwieweit ist es heute schon möglich, mit dem CI Musik zu hören?

Dr. Hessel: Um das zu beantworten, müsste man zuerst einmal klären, was genau mit Musikhören gemeint ist - das sehr differenzierte, akustische Wahrnehmen oder vielmehr das Erleben und das Genießen von Musik.

Früher ging man davon aus, dass die Cochlea Implantat-Träger keinen Spaß am Musikhören haben. Doch in mehr als drei Jahrzehnten CI hat sich viel getan. Die Technik und die Operationsmethoden wurden weiterentwickelt. Und während früher nur diejenigen ein CI bekamen, die mehr oder weniger taub waren, gibt es heute immer mehr CI-Träger, die noch ein Restgehör haben. Bei ihnen können Schallinformationen deutlich leichter und genauer übertragen werden.

Red.: Also auch Musik?

CI

„Ein erheblicher Unterschied ist, ob die Musik aus der „Dose“ kommt oder ob man in einem Konzert sitzt“ – CI-Träger bei einem Musik-Workshop der HNO-Klinik der Universität Frankfurt        (Foto: Schaarschmidt)

Dr. Hessel: Ob es um Sprache oder um Musik geht - es gibt nicht den CI-Träger. Grundsätzlich muss man zwischen zwei Gruppen unterscheiden. Wir haben die prälingual ertaubten CI-Träger; zumeist Kinder, die bereits mit einer gravierenden Hörschädigung geboren werden und erst durch das CI zu Hörerfahrungen kommen. Und es gibt die postlingual ertaubten CI-Träger. Sie konnten früher ohne das CI hören, haben Erinnerungen an ihr früheres Hörerleben, an Lautsprache und an Musik. Etwa 40 Prozent der CI-Träger sind prälingual, etwa 60 Prozent postlingual.

Kinder, die das Hören von Beginn an mit dem CI gelernt haben, haben allgemein kein Problem damit, Musik zu hören und Spaß an Musik zu empfinden. Musik ist Teil ihrer Therapie; viele spielen sogar Instrumente. Diese Kinder sind ein Beweis dafür, dass es grundsätzlich möglich ist, mit einem CI die wesentlichen Eigenschaften von Musik zu übertragen. Denn andernfalls würden die Kinder nicht diesen Spaß an Musik haben.

Red.: Und bei den postlingualen CI-Trägern?

Dr. Hessel: Sie lassen sich nochmals in drei Gruppen unterteilen. Zum einen gibt es auch bei ihnen nicht wenige, die gerne Musik hören. Zum anderen gibt es CI-Träger, für die Musikhören kein Genuss mehr ist. Unter ihnen sind z. B. viele, die früher intensiv klassische Musik gehört haben. Die dritte Gruppe bilden diejenigen, die schon vor ihrer CI-Versorgung keine Musik gehört haben und die danach auch keine hören.

Ob und wie wir Musik empfinden, ist von vielen Faktoren abhängig. Professor Eckart Altenmüller hat es einmal sehr schön auf den Punkt gebracht: „Wir erlernen die Sprache der Musik durch das Hören von Musik.“ – Ein wunderbarer Satz, der erklärt, wie wir zur Musik kommen. Ein Säugling, der noch kein Wort versteht, hört auch die Sprache der Eltern wie eine Art Musik. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt lernen wir ganz viel. Und wir werden kulturell geprägt. Denken wir nur an die Unterschiede zwischen europäischer und asiatischer Musik, an die verschiedenen Vorstellungen von Harmonie. All das formt unser Erleben. Wer taub zur Welt kommt, erhält diese Art Prägung nicht. Oder er macht seine Erfahrungen mit dem CI.

Red.: Dann lernt er Musik von Anfang an so wie die Sprache. - Und ein CI-Träger, der früher ohne CI hören konnte?

Dr. Hessel: Für den ist die Herausforderung, das Musikhören neu zu lernen, grundsätzlich vergleichbar mit dem Neu-Erlernen von Sprache. Auch die Sprache hat er ursprünglich akustisch gelernt. Er muss diese Fähigkeit nun auf das elektrisch stimulierte Hören übertragen. Die Sprache braucht er unbedingt. Also trainiert er das Sprachverstehen. Im Reha-Bereich steht Sprache im Fokus. - Was man heute schnell vergisst: Motiv für die Entwicklung von Cochlea-Implantaten war anfangs ausschließlich die Übertragung von Sprache – nicht etwa das Musikhören.

Manche Reha-Zentren haben mittlerweile Musiktherapeuten, die CI-Träger auch an Musik heranführen. Doch für viele Erwachsene gibt es das nicht. Dann passiert oft folgendes: Der postlingual ertaubte CI-Träger ist froh, wieder hören zu können. Also probiert er es auch einmal mit Musik, er legt sich z. B. eine alte Platte auf, die er früher gerne gehört hat. Danach ist er frustriert.

Red.: Weil diese Schallplatte jetzt ganz anders klingt?

Dr. Hessel: Auch die Sprache klingt anfangs meist fremd. Aber auf die kann der CI-Träger nicht verzichten. Und er erhält zudem die notwendige therapeutische Unterstützung, um sie zu lernen. Den Selbstversuch mit der Schallplatte hingegen wiederholt er vielleicht noch zwei, drei Mal. Der Frust bleibt. Er hat keinerlei Unterstützung. Also lässt er das mit der Musik besser ganz…

Red.: Aber ein planvolles Training könnte ihm helfen?

Dr. Hessel: Es gibt Belege dafür, dass man das Musikhören ebenso trainieren kann wie das Sprachverstehen. Nur ein Beispiel: Manfred Spitzer berichtet in seinem Buch „Musik im Kopf“ über Untersuchungen zum absoluten Gehör. Er hatte u. a. Menschen aus Europa und aus Asien mit einander verglichen. Mit dem Ergebnis, dass es in Asien viel mehr Menschen mit einem absoluten Gehör gibt als bei uns.

Grund ist die Sprache. Asiatische Sprachen sind meist tonale Sprachen. Bei ihnen hat ein und dieselbe Silbe je nach Tonhöhe und Intonation eine völlig andere Bedeutung. Wer tagtäglich trainiert, solche Unterschiede exakt wahrzunehmen, trainiert sein Gehör ganz anders als jemand, der sich diesen Anforderungen nicht stellen muss.

Red.: Und das lässt sich für CI-Träger nutzen?

Dr. Hessel: An der Universität Erlangen gab es kürzlich eine Studie mit erwachsenen postlingualen CI-Patienten (s. Literaturliste 1). Diese Patienten hatten ihre Rehabilitation bereits erfolgreich beendet. Bei der Studie absolvierten sie ein zusätzliches Trainingsprogramm. Sie mussten völlig unsinnige Wörter erfassen. Es ging also nicht um ein Sprachtraining, vielmehr um ein Wahrnehmungstraining für bestimmte Tonfolgen. Trotz abgeschlossener Reha erreichten die Patienten durch dieses Training eine signifikante Verbesserung, die ihnen dauerhaft erhalten blieb.

Andere, ältere Untersuchungen  belegen, dass man die Erkennung von Konsonanten trainieren kann (s. Literaturliste 2-5). Und es ist gleichfalls sehr wahrscheinlich, dass man mit Trainingsprogrammen für Musik das Musikhören verbessern kann. - Wobei man klar einschränken muss: Es wird auch Patienten geben, bei denen das leider nicht funktioniert. Sei es, weil bei ihnen die Übertragung nicht gut genug ist, sei es, weil ihr Hörnerv nicht mehr ausreichend intakt ist…

Red.: …oder sie nicht die geeignete Musik ausgewählt haben?

Dr. Hessel: Auch die Musikauswahl spielt eine Rolle. Den Rhythmus überträgt das CI sehr gut, Melodien mit zahlreichen Obertönen hingegen sehr schlecht. Wer Klassik hört, hat daher oft größere Schwierigkeiten, einen neuen Zugang zu Musik zu finden, als jemand, der z. B. Blasmusik mag.

Entscheidend ist aber auch die Reha bzw. die Art und Weise, wie die Therapie an Musik heranführt. Da gibt es mittlerweile tolle Projekte; etwa die Musikworkshops für CI-Patienten in Köln. Das habe ich selbst miterlebt. Viele Teilnehmer bekommen durch so ein Angebot einen echten Motivationsschub. Sie finden tatsächlich wieder zum Musikhören.

Red.: Inwieweit hilft beim Musiktraining auch die Wahrnehmung der Musik über andere Sinne?

Cochlea Implantant Tanz

„Auch Tanz macht Musik sinnlich erlebbar“ - Tanz-Workshop des Sächsischen Cochlear Implant Centrum (SCIC) des Universitätsklinikums Dresden in Kooperation mit der Semperoper Dresden
(Foto: Schaarschmidt)

Dr. Hessel: Die spielt eine sehr große Rolle. Es ist z. B. ein erheblicher Unterschied, ob die Musik aus der „Dose“ (von CD) kommt oder ob man in einem Konzert sitzt, vor sich die Musiker hat, sieht, wie sie musizieren. Dieser visuelle Eindruck oder auch der taktile, wenn man selbst ein Instrument spielt – das macht einen riesigen Unterschied. Menschen sind multi-modal. Wir nutzen immer mehrere Sinne, um unsere Umwelt zu begreifen. Auch Tanz macht Musik sinnlich erlebbar; man kann sie über die Körpersprache und über die Bewegung erfahren.

Red.: Abgesehen von den Trainingsmethoden; wie sieht es mit neuen technologischen Entwicklungen für ein noch besseres Musikhören aus?

Dr. Hessel: Ein Schwerpunkt ist hier die Signalvorverarbeitung. Ziel ist es dabei, den Nutzschall im Verhältnis zum Störschall noch besser zu übertragen. Bei unserem neuesten CI-System, dem Cochlear Nucleus 6, gibt es eine Programmoption für Musik. Im Prinzip wird hier der gut hörbare Bereich optimiert. Musikpassagen werden in diesen Bereich gehoben. Rauschen wird unterdrückt. Die Mikrofoneinstellung wird so verändert, dass man die Musik um sich wahrnehmen kann - bei beidseitiger Versorgung auch räumlich. All das wird durch die Vorverarbeitung des Signals bewirkt.

Daneben gibt es Untersuchungen, die sich mit der Codierung von Schall beschäftigen. Ziel ist hier eine noch bessere, harmonischere Übertragung. Jeder Musik-Ton ist ein komplexes Gebilde. Er ist kein reiner Sinus-Ton, sondern er besteht aus einem Grundton und aus harmonischen Obertönen. Also versuchen wir, dieses komplexe Gebilde so originalgetreu wie möglich abzubilden.

Red.: Gibt es auch Bestrebungen, die Übertragung in der Cochlear zu optimieren?

Dr. Hessel: Das wurde in den letzten Jahren verstärkt betrachtet. Damit ein komplexes Signal wie ein Musik-Ton in der Cochlear ankommt, braucht man eine relativ hohe Frequenzauflösung sowie eine detailgetreue Stromübertragung. Wir bräuchten sozusagen unterscheidbare Kanäle. Derzeit gibt es in unserem System 22 Elektroden. Eine Überlegung ist, noch mehr Elektroden in die Cochlear zu bringen, um jede für sich und von einander unterscheidbar zu stimulieren.

Aktuell testen wir ein System mit so genanntem Phased Array. Bei diesem werden alle Elektroden gleichzeitig stimuliert. Mit positiven und negativen Strömen bzw. Spannungen halten wir das elektrische Feld so klein wie möglich. – Eine Voraussetzung dafür, zukünftig noch mehr Elektroden in der Cochlear platzieren zu können. Wobei man sicherstellen muss, dass sich die elektrischen Felder nicht überlagern. Das ist eine der größten Herausforderungen, die dabei zu meistern sind.

Red.: Könnten Sie das noch etwas erläutern?

Dr. Hessel: Wie ein CI Musik stimuliert, lässt sich mit Hilfe eines Elektodogramms zeigen. - Die x-Achse dokumentiert die Zeit, die y-Achse die Frequenz; die Stimulation der einzelnen Elektroden als Strichmuster und seine Intensität farblich abgestuft. - Nimmt man etwa den Ton eines Pianos und den einer Violine, so sind die Darstellungen im Elektrodogramm deutlich verschieden. Also an sich eine gute Voraussetzung, um sie unterschiedlich wahrnehmen zu können.

Das Problem ist jedoch bislang, dass sich die elektrischen Felder der Elektroden bei der Stimulation überlagern würden. Damit dies nicht geschieht, werden die Elektroden nur nach einander stimuliert. Von der Klangfarbe eines Instrumentes, von seinem klanglichen Spektrum, wird immer nur ein Teil übertragen. Und das macht es für CI-Träger schwierig, z. B. Instrumente voneinander zu unterscheiden. Beim Phased Array hingegen versuchen wir, die einzelnen Felder zu verkleinern. Wir wollen mehr Felder nebeneinander legen, ohne dass diese sich überlagern. Denn das würde es ermöglichen, mehr Obertöne zu übertragen.

Red.: Sie erwähnten schon, dass es heute auch viele CI-Träger mit einem natürlichen Resthörvermögen gibt. Welchen Stellenwert hat das Restgehör für den Musikgenuss?

Dr. Hessel: Das akustische Restgehör spielt eine ganz erhebliche Rolle für das Musikerleben. Wobei man erneut unterscheiden muss. Zum einen geht es um das Resthörvermögen auf dem CI-versorgten Ohr, welches die akustische Wahrnehmung tiefer Töne ermöglicht. Zum anderen geht es um Menschen, die auf der einen Seite ein CI und auf der anderen Seite ein Hörgerät tragen. Für beide Gruppen gilt jedoch: Ein akustisches Resthörvermögen bringt erhebliche Vorteile beim Musikhören; und zwar selbst dann, wenn ein Gewinn beim Sprachverstehen nicht mehr nachweisbar ist. Das wird durch zahlreiche Studien belegt (s. Literaturliste 6-7).

Durch das Resthörvermögen werden Informationen übertragen, die das CI nicht gut überträgt. Das betrifft etwa die Wahrnehmung der Sprachmelodie. Wer noch ein Restgehör hat, sollte es daher auf jeden Fall nutzen. Beim Nucleus 6 System besteht diese Option ja erstmals auch nach der OP und ohne zusätzliche Kosten.

Red.: Abschließende Frage: Welche Empfehlungen würden Sie einem CI-Träger geben, der sich das Erleben von Musik neu erschließen will?

Dr. Hessel: Vor allem braucht er Geduld und Ausdauer. - Man darf nicht so schnell aufgeben, braucht mitunter eine hohe Frustrationsschwelle. Das belegen auch Erfahrungen vieler CI-Träger – etwa die des US-amerikanischen Musikers Richard Reed.

Zudem kann eine professionelle Anleitung, also eine Musiktherapie, sehr hilfreich sein. In einigen CI-Zentren gehört das schon heute dazu. Doch diese Angebote gibt es längst nicht überall. Da kann noch viel getan werden.

Red.: Herr Dr. Hessel, vielen Dank für das interessante Gespräch!

 

Nachstehend noch einige Literaturangaben zu den im Gespräch erwähnten Studien:

1 - Schumann, A.; Hoppe, U.; Kann ein lautbasiertes PC-gestütztes Hörtraining die Sprachverstehensleistung langjähriger erwachsener CI-Träger verbessern? - Abstract mit Zwischenergebnissen einer Studie des CI-Zentrums der Univ.-HNO-Klinik Erlangen, DGA 2012

2 - Habib, M.; Rey, V.; Daffaure, V.; Camps, R.; Espesser, R.; Joly-Pottuz, B.; Démonet, J.-F.; Phonological training in children with dyslexia using temporally modified speech: a three-step pilot investigation; International Journal of Language & Communication Disorders; 2002, Vol. 37, No. 3 , Pages 289-308

3 - Tallal, P.; Merzenich, M.; Miller, S.; Jenkins, W.; Language learning impairment: Integrating research and remediation; Scandinavian Journal of Psychology; Volume 39, Issue 3, Pages 197–199, September 1998

4 - Nagarajan, S.S.; Xiaoqin Wang; Merzenich, M.M.; Schreiner, C.E.; Johnston, P.; Jenkins, W.M.; Miller, S.; Tallal, P.; Speech modifications algorithms used for training language learning-impaired children; Rehabilitation Engineering, IEEE Transactions on (Volume:6 ,  Issue: 3 ), Sep. 1998, Pages 257 - 268

5 - Wright, B.A.; Buonomano, D.V.; Mahncke, H.W.; Merzenich, M.M.; Learning and Generalization of Auditory Temporal–Interval Discrimination in Humans; The Journal of Neuroscience, 15 May 1997, 17(10): 3956-3963

6 - Gfeller, K. et al; Accuracy of Cochlear Implant Recipients on Pitch Perception, Melody Recognition, and Speech Reception in Noise; Ear & Hearing, January 22, 2007

7 - Lenarz, T.; Büchner, A.; Lesinski-Sschiedat, A.; Schultrich, H.; Schuessler, M.; Pesch, J.; Vorteile durch die Nutzung von erhaltenem Restgehör mit der Nucleus Hybrid-L Elektrode; DGA 2009 Innsbruck